In dieser Ausgabe geht es um etwas, das ich dem Publikum nicht zeigen, wohl aber beschreiben werde. Es ist ein Bild, das eine Schachtel mit sechs Schokoladenstückchen ziert. Ich beschreibe das Bild und die Schachtel, um mich zu zwingen, möglichst genau (Fehler dennoch nicht ausgeschlossen) hinzuschauen und das Wesen des Produkts und seiner Verpackung 'schmerzlich' genau zu erfassen. Vielleicht hilft dieses Vorgehen auch, die Vorstellungskraft der Leserschaft zu beflügeln und ihre Belastbarkeit bezüglich textlastiger Artikel zu erproben. Sie müssen jetzt ganz stark und durch und durch LeserInnenschafftIhn sein!
Also: Wenn man die Schachtel von vorne oder von hinten betrachtet, hat sie den Umriß eines stilisierten Weihnachtsbaumes, der 14 cm hoch und unten 10 cm breit ist. Die Rückseite ist mit einem unregelmäßigen Muster bedruckt, das die Anmutung, nicht aber das reale Abbild eines grünen, beleuchteten Tannenbaumes wachruft. In dieses Muster sind etliche fünfzackige, goldfarbene Sterne verschiedener Größe eingeprägt. Unterhalb der Baumspitze ist ebenfalls in Goldprägung der Markenname eingedruckt. Am unteren Rand der Rückseite steht in heller Schrift 'EDELVOLLMILCH-CHOKOLADE' (sic!) und in kleiner Schrift darunter die Angabe zur Portionierung. Weiterhin ist ein kleines hellgünes Feld aus dem Muster ausgespart, in das in ziemlich kleiner, schwarzer, unromantischer Schrift ein Datum und ein sehr kryptischer Code offenbar laufend und maschinell eingefügt ist.
Interessant für mein Thema ist die Vorderseite. Dort wird die Anmutung des Tannenbaumes nur noch durch den Umriß der Packung erzeugt, die Fläche aber ist mit einem Bild ausgefüllt. Der Hintergrund ist ein blaugrauer Himmel, aus dem Schneeflocken fallen. Er ersteckt sich über fast vier Fünftel der Bildhöhe. Einen Mittelgrund gibt es nicht. Das verbleibende untere Fünftel zeigt einen verschneiten Weg,über den eine Frau mit einem Lastenrad fährt. Sie ist blond, scheinbar etwas geschminkt und trägt ein lila Käppchen. Um den Hals hat sie sich einen langen, rosa Schal gewickelt, der dekorativ auf einen kurzen, braunen Mantel fällt, der aber nicht ganz geschlossen ist. Deshalb sieht man, dass die Frau ein Hemd oder eher einen Pullover in der Farbe des Käppis trägt. Die Hose ist dunkelgrau, die Stiefel sind dick und hellbraun. Erstaunlicherweise hat die Frau keine Handschuhe an: Sie faßt den Lenker des Rades aus grauem Metall mit bloßen Händen an.
Aus dem großen, braunen Kasten, der sich vor dem Lenker befindet, ragt ein Weihnachtsbaum heraus, der das gleiche Muster wie der Baum auf der Rückseite zeigt, also stilisiert und mit angedeuteten brennenden Lichter versehen ist. Ein Kind sitzt im Kasten des Lastenrads und hält den Baum mit bloßen Händen fest. Über sein rot-bräunliches Haar ist eine hellrote Mütze gezogen. Um den Hals trägt es einen Schal in derselben Farbe. Es hat eine graublaue Jacke an.
Über dem Lastenrad-Ensemble schwebt in goldener Schrift der Markenname. Vier goldene Sterne verschiedener Größe sind auf die Bildseite der Packung gedruckt. Am Fuß der Packung findet sich der goldene Schriftzug SUPERIOR MILK CHOCOLATE, darunter in kleiner schwarzer Schrift 45g. Das Gesamtgewicht der Schokolade beträgt also weniger als die Hälfte einer gängigen 100g-Tafel. Unterhalb der Spitze des Schachtel ist ein kleiner, knallroter Plastikknopf angebracht, mit dem die Packung so verschlossen ist, dass man sie aufreißen muss, wenn man sie öffnen will. Unter dem Knopf ist eine goldglänzende Schnur hindurchgeführt, die verknotet ist, so dass man die Schachtel irgendwo aufhängen könnte, z.B. am Weihnachtsbaum.
Die Seiten der Schachtel sind bedruckt mit Informationen zum Hersteller (Firmenname, Adresse, Website) und zur Lagerung sowie Mindesthaltbarkeit (in Deutsch und Englisch). Der Boden der Schachtel zeigt wieder zweisprachig die durchschnittlichen Nährwerte, die Fett-, Kohlehydrate-, Eiweiß- und Salzanteile pro hundert Gramm sowie eine Liste der verwendeten Zutaten. Am rechten Rand des Bodens findet sich der unvermeidliche Barcode. Links unten ist das Nettogewicht der Schokolade noch einmal in gr und oz angegeben.
Wenn man die Schachtel aufreißt, kann man die weihnachtsbaumförmigen Pappen zur Seite klappen. Die Rückseiten der Silhouetten sind unbedruckt weiß Es wird dadurch eine graublaue Schachtel in der Schachtel freigelegt, die am Fuß 9 cm breit, etwa 3 cm tief und etwa 7,5 cm hoc, also halb so hoch wie der umgebende Weihnachtsbaum ist. Wenn man die Silhouettenpappen herunterklappt, sieht man dass die hinter den Silhouetten befindlichen Vorder- und Rückseite der inneren Schachtel jeweils aus zwei Hälften bestehen, die mit zwei entgegengesetzten Schlitzen ineinander verhakt sind. Da die Schachtel sich an die Silhouette des Weihnachtsbaums anpasst, ist sie oben nur noch 5 cm breit. Auch die Tiefe reduziert sich nach oben hin auf 2 cm. Das abgestumpfte Ende wird durch zwei Papplaschen verschlossen, die mittig jeweils einen kurzen Schlitz enthalten. Da die Schlitze einander gegenüberliegen, kann man sie ineinanderschieben und so die Laschen ineinander verhaken. Auf der Höhe der Schlitze sind die Laschen mit einer Folie verklebt, die die Aufschrift 'Open here' (ohne deutsche Übersetzung!) trägt. Wenn man diese Folie abzieht und die Laschen aus ihrer 'Verhakung' löst, kann man in die Schachtel schauen, deren Innenseite unbedruckt weiß ist. Man sieht aber ansonsten wenig, weil so oder so nicht viel Licht in die Schachtel fällt. Also dreht man die Schachtel kopfüber: Heraus fallen drei, sehr kleine Tafeln Schokolade ( je ca. 6 cm x 3,5 cm x 0,4 cm) und drei, sehr kleine Schokoweihnachtsmänner (je unten ca 2 cm breit, oben 0,5 cm, dick 1,1 cm).
Die Tafeln sind in weißes Glanzpapier eingeschlagen. Auf der Vorderseite prangt oben in matter(!) Goldschrift der Markenname, darunter ist ein zum spitzen Dreieck stilisierter Weihnachtsbaum mit dem bekannten Muster gedruckt.
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Die Rückseite wird oben ebenfalls vom Markennamen geziert. Darunter folgt die Produktbeschreibung 'EDELVOLLMILCHSCHOKOLADE' (nicht ...CHOKOLADE!) sowie die Zutatenliste. Abschließend werden die Kontaktdaten genannt und das Nettogewicht 7,5 gr angegeben. Alle Angaben erfolgen nur in deutscher Sprache. Für die englische Übersetzung wäre nur Platz gewesen, wenn sie in einer unlesbar kleinen Schrift geliefert worden wäre. Packt man die Tafeln aus, zeigt sich, dass die Rückseite des Glanzpapiers unbedruckt weiß und matt ist. Einen kleinen Trost spendet die nun aufgefaltete Vorderseite. Am oberen Rand wird ein schmaler Streifen mit einem stilisierten Wald vor einem graublauen Himmel mit Schneeflocken erkennbar. Die große weiße Glanzpapierfläche wird zur großen Schneefläche. Die Schokoladentafel, in deren Oberfläche der Markenname eingeprägt ist, selbst ist noch einmal in silberglänzende Alufolie eingeschlagen, deren Rückseite wie die des Glanzpapiers auch nur matt(glänzend) ist.
Die Weihnachtsmännchen sind wie üblich in Alufolie eingeschlagen, die so bedruckt ist, dass der Eindruck entsteht, der weißbärtige Weihnachtsmann habe eine goldfarbene Mütze und Jacke, rote Handschuhe und eine braun glänzende Hose an. An ihrer rechten Seite findet sich als einzige Information der in kleiner roter Schrift gedruckte Markenname. Wenn man die Folie entfernt, sind am unteren Ende der Figur nur noch schmale, breite Füsse angedeutet,auf der Höhe der Arme sieht man rechts und links zwei kleine Hervorhebungen, die eher Pfoten als Armen ähneln. Der Kopf ist auf Halshöhe kaum abgesetzt und verjüngt sich nach oben in eine abgerundete Spitze. Die Rückseite ist flach und ohne Relief. Fast könnte man auf die Idee kommen, dass man diese Form nur mit einer Osterhasenfolie umwickeln muss, um sie für die entsprechende Saison verwenden zu können.
Soweit die kräftezehrende Schilderung. Hat die Genauigkeit weh getan? Ja? Dann war sie völlig richtig dosiert.
Jetzt zu meinen Gedanken über das Geschilderte: Es bestätigt sich beim Öffnen der Schachteln und der Tafeln erst einmal eine Banalität. Werbewirksam bedruckte Flächen, das Glanzpapier und sogar die Alufolie zeigen ihre schmucklose Rückseite, wenn man das Produkt angebrochen hat. Die Verführung muss nicht weitergeführt werden, wenn man ihr erlegen ist.
Weiter ist mir aufgefallen, dass die Illustration der Packung sich an ein 'grünes' und womöglich bürgerliches Publikum wendet, in dessen Weltbild 'Nachhaltigkeit' eine wichtige Rolle spielt. Ein Teil dieses Publikums rüstet ja unübersehbar von Auto auf Lastenrad um. Ob es sich in allen Fällen völlig vom Auto verabschiedet, ist für den oberflächlichen Beobachter nicht zu erkennen.
Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass die Schokolade nicht 'bio' und auch nicht als 'fair' zertifiziert ist. Letzteres Zertifikat sollte gerade bei Rohstoffen wie Kakao vielleicht der möglichen Zielgruppe nicht ganz unwichtig sein.
Verschiedener Meinung kann man auch darüber sein, wie nachhaltig es ist, 45 gr Schokolade derartig aufwendig zu verpacken. Die Nachhaltigkeit bezieht sich ja nicht nur auf die bloßen verwendeten Materialien sondern auch auf ihre Verarbeitung, bei der auch Energie verbraucht wird. Auch jede Menge menschlicher Arbeitskraft fließt in das Produkt ein, Arbeitskraft, die vielleicht besser für Produkte eingesetzt werden könnte, in die Rohstoffe und Energie etwas weniger großzügig einfließen. Nebenbei handelt es sich bei der Schokolade um eine 'Edelmarke', die tatsächlich für manche nicht-bio-bürgerliche Kundschaft eher nicht erschwinglich ist.
Das Bild mit Frau, Kind und Lastenrad zeigt eine verschneite Landschaft. Ein solches Bild war in der Realiät in den meisten Wintern der letzten Jahre sehr selten zu sehen. Als Ursache dafür wird von vielen Menschen der Klimawandel angesehen, der unter anderem möglicherweise auf verschwenderischen Umgang mit Rohstoffen zurückgeführt werden kann. Ob der Weg, 45 gr Schokolade wie beschrieben zu verpacken, Ausdruck eines sparsamen Umgangs mit Rohstoffen ist, darüber kann man zumindestens verschiedener Meinung sein.
Ich bin hauptsächlich ein Kind des 20. Jahrhunderts und habe noch erlebt, wie pariarchalische Verhältnisse fröhliche Urständ feierten. Diese Erlebnisse kontrastieren mit der Lastenradidylle: In meiner Kindheit war es selbstverständlich, dass der Vater mit den Kindern loszog, um einen Weihnachtsbaum zu besorgen. Solche vermeintlich selbstverständlichen Aufgabenteilungen sind in dem besagten Bild aufgehoben. Es ist nicht einmal ein Mann abgebildet.
Der Schoko-Weihnachtsmann ist aber Weihnachtsmann geblieben mit einem weißen Vollbart, der zu manchem Patriarchen aus vergangenen Jahrhunderten gepasst hätte. Eine Weihnachtsfrau wäre nur konsequent gewesen, aber manche Konsequenzen sind wohl noch tabu, weil kein Mensch drauf kommt oder weil sie angesichts übermächtiger Traditionen geschäftsschädigend sind. Wer weiß?
Und ein wenig konnten sich die Hersteller es auch nicht verkneifen, den Weihnachtsmann für ihre Marke zu vereinnahmen, denn auf der rechten Seite der Figur ist – wie schon gesagt – der Markenname in roter, nicht goldener Farbe, also in der vermeintlichen Farbe des Weihnachtsmannes, auf die Alufolie gedruckt. Das Marketing ist mächtiger als der Weihnachtsmann! Nein, falsch: Der Weihnachtsmann ist ein Kind des Marketings eines Getränke-Großkonzerns, sagt die Legende. Wieder falsch! Der Weihnachtsmann kann gar keinen Vater haben, weil er selbst ganz und gar Vater ist wie sein Kollege Väterchen Frost. Wieder falsch: Das Väterchen Frost gibt es seit etlichen Wintern gar nicht mehr oder das Väterchen ist auf Rente gegangen. Wakan!
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