Wer viel fragt, geht weit irr.
Deutsches Sprichwort
Diesen Schaukasten habe ich am Eingang zu einer Seniorenresidenz in der Östlichen Vorstadt entdeckt. Der Betreiber der Einrichtung warb damit, dass es dort 'Echte Bewohner', 'Echte Hausdamen' und 'Echtes Leben' gebe. Mir hat sich sofort die Frage gestellt, welchen Vorzug besagte echte Bewohner, echte Hausdamen und besagtes echtes Leben gegenüber welchen anderen gedachten Bewohnern, anderen gedachten Hausdamen und gegenüber welchem anderen gedachten Leben haben sollen.
Eine schwache Lösung des Problems ist der Versuch, Adjektive einzusetzen, die das zu vermeidende Gegenteil zu dem beworbenen und erstrebenswerten 'echt' ausdrücken. Was also soll vermieden werden? Falsche oder künstliche oder gefälschte oder verstellte oder vorgetäuschte Bewohner? Falsche oder künstliche oder gefälschte oder verstellte oder vorgetäuschte Hausdamen? Falsches oder künstliches oder gefälschtes oder verstelltes oder vorgetäuschtes Leben?
Daraus ergeben sich weitere Fragen: Werden BewohnerInnen nicht aufgenommen, die sich als falsch oder künstlich oder gefälscht oder verstellt oder vorgetäuscht erweisen? Wie wird festgestellt, dass es sich um mögliche falsche oder künstliche oder gefälschte oder verstellte oder vorgetäuschte BewohnerInnen handeln könnte? Werden falsche oder künstliche oder gefälschte oder verstellte oder vorgetäuschte Hausdamen nicht angestellt? Wie wird festgestellt, dass es sich um mögliche falsche oder künstliche oder gefälschte oder verstellte oder vorgetäuschte Hausdamen handeln könnte? Wie wird falsches oder künstliches oder gefälschtes oder verstelltes oder vorgetäuschtes Leben unterbunden?
Bei genauerer Betrachtung könnte man sich weitere Fragen stellen: Gibt es ähnliche Einrichtungen, in denen künstliche oder gar falsche Hausdamen zum Einsatz kommen? Gibt es Einrichtungen, in denen sich vorgetäuschtes Leben abspielt? Führen dort vielleicht auch verstellte BewohnerInnen ein künstliches Leben?
Wenn mir ein Wort echt nicht mehr aus dem Kopf geht, fallen mir noch echt viele andere Stellen auf, an denen es verwendet wird. Da ist zum Beispiel eine Reklame an einem sogenannten Bioladen in der Vorstadt. Sie wirft noch mehr Fragen auf als der Schaukasten vor der Seniorenresidenz.
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Was ist 'ECHT BIO.'? (Man beachte den werbewirksam gesetzten Punkt am Ende eines Satzes ohne Prädikat.) Ist es das Gleiche wie 'echtes Leben'? Aber nein! 'Echt' ist hier adverbial gebraucht und 'bio' ein Adjektiv. Aber wie soll es dekliniert werden? Das bio Lebensmittel, des bio Lebensmittels, dem bio Lebensmittel, ... Nein, das klappt nicht! Vielleicht ist BIO hier ein Substantiv: Ist es dann der, die oder das BIO? Ich frage nicht weiter! Denn ...
... diese kombinierte Getränke- und Vereinswerbung gibt möglicherweise eine Antwort darauf, was 'echt' ist: 'ECHTER GESCHMACK' soll das beworbene Getränk auszeichnen. Aber ist der Gechmack nun echt, weil oder obwohl es 'NULL ZUCKER' enthalten soll? Ab 'EINS ZUCKER' wäre es vielleicht schon vorbei mit 'ECHTER GESCHMACK'? Was aber ist 'NULL ZUCKER' oder 'EINS ZUCKER' oder gar, Gott bewahre, 'ZWEI ZUCKER'? Und was ist mit unserer selbstgekochten Marmelade? Wieviel 'ZUCKER' enthält sie? Sicher nicht 'NULL ZUCKER'. Und warum schmeckt sie trotzdem?
Man mag diese Sprachkritik für albern halten. Eine Frage sei aber erlaubt: Was löst eine solche Sprache in unseren Köpfen aus?
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