Ich fahre oft durch einen Teil des Bremer Stadtteils Schwachhausen, in dem viele sehr große Reihenhäuser und ausladende Villen stehen. Manche wohlhabende Familie hat dort ihr Domizil. Ab und an grüße ich von meinem Fahrad herab eine wohlgekleidete Dame oder einen seriös gewandeten Herrn, die mir gar nicht bekannt sind, mit ‚Guten Tag, Frau Doktor!' oder ‚Habe die Ehre, Herr Professor!' Meistens bekomme ich ein freundliches Lächeln, ein huldvolles Kopfnicken oder selten kalte Verachtung, so gut wie nie Widerspruch zurück.
Gelegentlich führe ich dieses soziale Experiment auch weiter, wenn ich die Grenzen dieses Stadtteils schon hinter mir gelassen habe und in eine Gegend komme, wo schmucklosere Blocks vorherrschen. Und manchmal will es der Zufall, dass ich im Abstand von ein paar Tagen, denselben Menschen so grüße. Neulich erntete ich in einem solchen Fall entschiedenen Widerspruch. Ein einfach gekleideter Herr mit meliertem Haar und Bart rief mit etwas hartem slawischen Akzent empört zurück: ‚Sie kennen mich doch gar nicht. Ich bin kein Doktor!'
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Ich blieb stehen und fragte: ‚Wie muß ich Sie denn anreden, vielleicht mit ‚Herr Ingenieur'? Nach einer winzigen Schrecksekunde antwortete er schon weniger aufgebracht: ‚Ja, ich bin Ingenieur, aber es reicht doch, wenn Sie ‚Guten Tag' sagen oder auch einfach vorbeifahren, ohne zu grüßen. Dass ich Ingenieur bin, ist doch nur im Beruf wichtig. Und dann muß man mich nicht mit ‚Herr Ingenieur' ansprechen. Es reicht doch, wenn es auf der Visitenkarte steht.'
‚Gut', sagte ich nach kurzem Überlegen, ‚ich bin Herr Frey:' ‚Ich bin Herr S.' antwortete mein Gegenüber und schon wieder flammte ein wenig Unmut über sein Gesicht und er fuhr fort: ‚Sie müssen mich doch aber gar nicht grüßen und auch nicht mit ‚Herr Doktor'. Das ist doch auch ein bißchen Verarschung.' ‚Nein', hielt ich ihm entgegen, ‚Wenn ich es nicht getan hätte, hätten Sie mir nie etwas über Bescheidenheit erzählt.' Ein Lächeln ging über sein Gesicht: ‚Bescheidenheit ist überhaupt das Allerwichtigste.'
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