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Folge 52/2003, Bremen, den 11.12.2003 (Nr.131)   1 Jahr kleinmexiko.de: Danksagung
        
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Arbeiten muß man, alles andere hole der Teufel!
Anton Pawlowitsch Tschechow

Ich wurde wieder nachdenklich. Seltsame Gedanken gingen mir durch den Kopf. Sie kreisten um etwas, das selbst um etwas kreiste. Und dieses Etwas war auch seltsam. Und die Seele war schwer ....
Wenedikt Jerofejew: Die Reise nach Petuschki


Ich bin unruhig. Die Unruhe fährt mich von vielen Seiten an. Natürlich lese ich jeden Morgen die Zeitung. Manchmal arbeiten die Nachrichten lange in mir.
 
Da war zum Beispiel der 19.10., ein Sonntag. Der Kurier am Sonntag machte mit der Schlagzeile 'Freimarkt und Fußball lockten' auf. Unter der Überschrift 'Neue Steuerschlupflöcher' vermeldet eine Kurznotiz auf Seite 2: 'Die Bundesregierung hat nach einem 'Spiegel-Bericht' in ihrem Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen ein neues Steuerschlupfloch für Konzerne eingebaut. (...) Das Magazin zitiert den Steuerprofessor Lorenz Jarass mit der Befürchtung, dass dem Fiskus dadurch zweistellige Milliardenbeträge entgehen könnten.'
 
Die nächstfolgende Notiz mit der Überschrift 'Staatsdefizit von 4,3 Prozent' - wieder unter Berufung auf den Spiegel - beglückt die LeserInnen mit folgender Prognose: 'Neben der Neuverschuldung erreicht in diesem Jahr auch das Staatsdefizit eine Rekordhöhe.' Am folgenden Montag titelt der Weser-Kurier mit 'Notoperation zu Lasten der Rentner/ Altersbezüge gekürzt/ Beiträge bleiben stabil' und berichtet im Text: 'Das Kabinett beschloss nach fünfstündigem Krisengespräch im Kanzleramt ein umfangreiches Sparpaket, um das Loch von acht Miliarden Euro in den Rentenkassen zu stopfen.'
 
Meine Freundin hat mich gelehrt, öfter die Frage zu stellen, was der/die sich wohl denkt. Also frage ich mich, was denkt zum Beispiel die christ- demo-kratische oder der sozial-demo-kratische Bundestagsabgeordnete, der ja angeblich Volkes Krönung ist, wenn er zu Gesetzen wie Rentenkürzung oder Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe zustimmend die Hand hebt. Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass am 3. November der Weser-Kurier mit der Frage titelte 'Sinken die Renten unter 40 Prozent?' und in der Unterschlagzeile vermeldete 'Regierung will Beamte offenbar schonen'. Und da fiel mir ein, dass das Volk, dessen Krönung die Abgeordneten sind, zu einem großen Teil aus BeamtInnen, RechtsanwältInnenn (womöglich mit Aktienbesitz), LehrerInnen usw. jedenfalls aber nicht aus ArbeiterInnen, kleinen AngestelltInnen oder gar RentnerInnen bestehen müsste, wenn sich im Parlament auch standesbezogen der Repräsentationsgedanke widerspiegeln würde.
 
Heute schlage ich das Heft 'Caritas ist international', eine Spezialausgabe der Zeitschrift 'Sozialcourage' auf. Ein Bild zeigt eine alte Frau, die eine Suppe löffelt. Die dazugehörige Notiz 'Suppenküchen in der Ukraine' berichtet: 'Die Caritas Mecklenburg hat in Rohatyn und Burschtyn gemeinsam mit der griechisch-katholischen Gemeinde und deren Caritas zwei Suppenküchen aufgebaut, die täglich rund hundert warme Mahlzeiten vor allem an Kinder und alte Menschen ausgeben.' Mein Deutschland-Bild ist in den rechten Rahmen gerückt.
 
Gefunden habe ich das Heft in der Kirche St. Johann, in die ich mich in den letzten Tagen gelegentlich für ein paar Stunden zurückgezogen habe. Jetzt höre ich den alten kommunistischen Adam (in mir) schon schreien: 'Jetzt fängst Du wieder mit Deiner esoterischen Nabelschau an. Man muß politisch kämpfen und zur Not dafür auch Folter und Gefängnis in Kauf nehmen.' Ich antworte ihm gar nicht und setze mich in die Kirchenbank.
 
Ich kann hier in der Stille ein wenig aus mir heraustreten und mich selbst ansehen. Was ich im Alltag betreibe, ist kein Leben 'von der Stange': Ich produziere ohne direkten Auftrag im Jahr umgerechnet hundertzwanzig Buchseiten Text und zweihundert bis dreihundert Fotos allein für diese Webseite. Ein neues Heft 'Klein Mexiko' mit umgerechnet etwa achtzig Buchseiten entsteht gerade.
 
 

St. Johann - Kirche, Bremen

Ein solches Projekt und den Menschen dazu am Leben zu erhalten, ist nicht so ganz einfach. Es erfordert Konzentration: Die Frage, was wesentlich und leistbar ist, kann ich mir hier fernab vom Alltag besser stellen. Und die Antwort fällt, angesichts der demütigen BeterInnen bescheidener aus, als es in der häuslichen Umgebung der Fall wäre.
 
Hier verschwinden die Nachrichten zwar nicht, aber sie hören auf, meine Seele zu bedrängen. Da sich meine Arbeit zu einem großen Teil auf das Beschreiben von Wahrnehmungen beschränkt, stellt sich angesichts zerstörerischer Vorgänge in der Welt oft das Gefühl der Ohnmacht und des Hasses ein.
 
Der Ort hat hier eine wundersam heilende und tröstende Wirkung: Er gibt mir ein, mich auf das Aufbauende zu verpflichten. Das kann auch heißen, den zerstörerischen Kräften entgegenzutreten. Dabei ist mir das Heldentum fremd: Ich weiß um meine sehr begrenzte Kraft und meinen sehr begrenzten Einfluß. Es gibt auch zerstörerische Kräfte genug, denen man (als einzelner schon gar nicht) gewachsen ist.
 
Und noch etwas ruft die Stille in mir wach: Eine leise Stimme mahnt mich, nach Möglichkeit in meiner Arbeit unabhängig zu bleiben. Auch das ist nur annäherungsweise verwirlichbar, aber nach der mahnenden Stimme sollte ich schon immer wieder horchen.
 
Und da ich heute dies alles schreibe, bin ich ruhiger geworden, auch dank St. Johann.
 
Nachtrag: 15.12.2003
Am Sonnabend, den 13.12.2003, lese ich auf der Titelseite des Weser-Kuriers Bischöfe fordern 'Sozial-TÜV'. Die Vertreter der katholischen Bischofskonferenz betonen: 'Es gehe nicht um einen Abriss des Sozialstaates, sondern um seinen notwendigen Umbau. Notwendig seien mehr Eigenverantwortung, vor allem durch eine Stärkung der Familie.'
 
Heute morgen sah ich beim Zeitung-Austragen in aller 'Herrgottsfrühe' einen Bischof in vollem Ornat einen Supermarkt putzen. Wie er mir durch die beschlagene Scheibe zurief, bringe er mit seiner Putzstelle an Mutters Statt eine achtköpfige Familie aus Oslebshausen durch. Alle sieben Kinder seien durch konsequente Nichtanwendung von Verhütungsmitteln korrekt katholisch gezeugt, der arbeitslose Vater aber dem Alkohol verfallen und die Mutter aber leider an Überanstrengung gestorben. Na, ich glaube, das habe ich geträumt.
 
Nicht geträumt habe ich folgendes: Als ich nach meinem letzten Besuch vergangene Woche St. Johann verließ, traf ich Pastor Ulrich Högemann umringt von einer Gruppe vielleicht zehnjähriger Jungen. Mit offensichtlich großer Geduld hatte er gerade mit der Gruppe einen kurzen Besuch der Kirche hinter sich gebracht. Seine kleinen Schutzbefohlenen hielten offenbar große Stücke auf ihn. Im Gespräch stellte sich heraus, dass er der einzige offizielle katholische Jugendpastor der Stadt ist.

Ohne Nachrichten (1)

Ohne Nachrichten (2)

Ohne Nachrichten (3, über St. Johann!)

Ohne Nachrichten (4)

Ohne Nachrichten (5)

Ohne Nachrichten (6)

Ohne Nachrichten (7)

Ohne Nachrichten (8)

Ohne Nachrichten (9)

Ohne Nachrichten (11)

Ohne Nachrichten (12)

Ohne Nachrichten (13)

Ohne Nachrichten (14)

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Ohne Nachrichten (16)

Ohne Nachrichten? (17)

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Donnerstag, den 18.12.2003


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