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Ich sagte es schon: Das eigentliche Thema dieser Website ist die Erforschung der Beschaffenheit von Wahrnehmung. Es dürfte fast jede/r MitbürgerIn wahrgenommen haben, dass die herrschende Virus-Pandemie viele Menschen angeregt hat, sich durch ein ins Fenster gehängtes Plakat, ein auf dem Grundstück aufgestelltes Schild, ein am Haus befestigtes Transparent oder ähnliches der Öffentlichkeit mitzuteilen. Einige Produkte dieses sich fast epidemisch ausbreitenden Mitteilungsbedürfnisses hat der Autor dokumentiert und sich ein wenig genauer angesehen.
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Erste Ergebnisse dieser genaueren Betrachtung hatte er zum 1. Mai veröffentlicht. Inzwischen ist auch eine dritte Folge erschienen. In diesen Betrachtungen war z.T. auch von Menschen die Rede, die neuerdings als systemrelevant bezeichnet werden, also etwa BriefträgerInnen, PaketbotenInnen und MüllwerkernInnen. Er hatte schmerzvoll registriert, dass in dem vorgestellten Dankplakat von den ZeitungsbotInnen nicht die Rede war.
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Politisches Transparent zur Corona-Pandemie
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Auch auf diesem Transparent, das in Pandemie-Zeiten außer wohlfeilem Beifall auch 'Lohnerhöhung und Schutz' für die sogenannten systemrelevanten Berufstätigen fordert, fehlen die ZeitungsbotInnen. Nur mit äußerster Aufbietung guten Willens könnte man in der stilisierten Figur links unten eine/n ZeitungsbotenIn. Nähme man das an, dann wären die PaketbotenInnen nicht gewürdigt. Das läge nicht im Trend.
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Eher dürfte es so sein, dass die Kenntnis über die Situation vermeintlich randständiger Berufstätiger wie ZeitungsbotenInnen schwach entwickelt ist, auch unter Menschen, die mit Forderungen nach 'Lohnerhöhung und Schutz' für KollegInnen auftreten. Welchen (auch gesundheitlichen) Gefährdungen durch seltsame menschliche Begegnungen ZeitungsbotenInnen ausgesetzt sind, kann wohl nur ermessen, wer diesen Job einmal selber gemacht hat.
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Politisches Transparent zur Corona-Pandemie
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Trost bietet den ZeitungsbotenInnen dieses aus einem Kissenbezug gefertigte Transparent, das ich in einer gutbürgerlichen Gegend ablichten konnte. Wenn wir Pflanz' und Tier auch eine Seele zugestehen, schließt diese Forderung nach 'GESUNDHEIT/ FÜR ALLE/ WELTWEIT/!' vom Nordpol bis zum Südpol alle ein: Pflanzen,Tiere und Menschen. Sogar die ZeitungsbotenInnen! Also: Weg mit den Krankheiten! Alle sollen überleben! Die Erde soll freudig überquellen von gesundem Leben. Ich kann's nicht ändern, dass mir an dieser Stelle die sogenannten Spontis aus den heißen 70gern einfallen, die die Parole 'HOCH DIE INTERNATIONALE SOLIDARITÄT!' in 'HOCH DIE INTERNATIONALE KINDERSCHOKOLADE!' verwandelten.
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Allen alles Gute zu wünschen, kann damit enden, dass man für niemanden, nicht einmal für einen gedachten, halbverhungerten Zeitungsverkäufer auf den Straßen von Lagos, irgendetwas erreicht, außer allerdings für sich selbst, nämlich das gute, schokoladige Gefühl im Mund, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen, ohne auch nur einen Finger in einem wirklichen Kampf um bestimmte Verbesserungen für bestimmte Lebewesen rühren zu müssen, mit allen Risiken, die ein solcher Kampf mit sich bringt.
Ach, nebenbei: Das Kissentransparent war tiefrot eingefärbt.
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Politisches Transparent zur Corona-Pandemie
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Gut zehn Tage später entdecke ich am selben Ort ein neues Transparent, diesmal nur noch hellrot und auch nicht selbstgebastelt, sondern von einer Organisation namens 'attac' zur Verfügung gestellt. Wer wollte jetzt erstaunt sein, wenn auch diesmal die Transparent-Aufhänger (mit einem Hashtag, den man erkunden müsste,) nicht auf's Ganze gingen: '#waswirklichwichtigist' wollen sie uns namens der Organisation 'attac' mitteilen. Das Wort 'wirklich' ist noch einmal farblich hervorgehoben. Will sagen: Die folgende Parole ist nicht nur einfach wichtig, nein, sie ist auch nicht 'sehr wichtig', sie ist 'wirklich wichtig'. Also muss es Dinge geben, die 'nicht wirklich wichtig' sind. Diese Dinge werden damit relativ kategorisch aus dem Status der Wichtigkeit ausgeschlossen, während die sehr wichtigen Dinge den wichtigen Dingen den Status der Wichtigkeit noch belassen würden.
Leider erfahren wir von diesen wichtigen Dingen, die nicht wirklich wichtig sind, nichts und müssen uns damit begnügen, sofort zu erfahren, was 'wirklich wichtig' ist. 'Wirklich wichtig' ist, dass wir 'Aus der Krise lernen:'.
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Bevor wir uns dem widmen, was wir gemäß der Aussage nach dem Doppelpunkt lernen sollen, dürfen wir uns getrost fragen, aus welcher Krise wir etwas lernen sollen. Denn: die Art der Krise ist hier nicht näher erläutert. Halt! Da ist ja noch ein Stückchen Transparent am oberen linken Rand halb verdeckt: Da könnte stehen 'attac.de/corona'. Wenn man diese Seite aufruft, fällt einem sofort die Schlagzeile 'Corona: Was jetzt wirklich wichtig ist', unter der die besagte Organisation die Schlußfolgerungen entfaltet, die ihrer Ansicht nach aus der Corona-Pandemie/ -Krise zu ziehen sind. Diese Schlußfolgerungen sind wiederum auf dem Transparent in äußerst knapper Form zusammengefaßt: 'Wirtschaft sozial und ökologisch umbauen!' Darin zeigt sich die kommunikative Problematik dieses Transparents. Es kann eigentlich nur wirklich hinreichend verstanden werden, wenn man den Verweisen auf das Internet, die es enthält, gründlich nachgeht. Wenn die entsprechenden Verweise wie in diesem Fall durch eine unglücklichen Zufall halb verdeckt sind, wirkt der der Text des Plakates sehr 'plakativ' bis hin zur Verkürzung.
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Vgl. auch:
Parolen (32)
Parolen-Seuche (1)
Parolen-Seuche (3)
Bitte werfen Sie auch einen Blick auf Charlie Dittmeiers kleinen Bericht vom 29. Juli 2018 über die Geschäftswelt im Zeichen der Corona-Pandemie in Phnom Penh.
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Freitag, den 12.6.2020
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