Die Illusion, dass der Staat alle scheiternden Biografien heilen kann, ist präpotent und absurd. Der Mindestlohn gibt dafür die ideale Anschauung.
Ulf Poschardt: Absurde Illusion vom Staat, der alle Wunden heilt; Die Welt (26.12.13)
Auf dem Gelände eines Großhandelsmarktes fällt mit eine große, hagere Gestalt auf. Sie hält ein Fahrrad an der Hand, dessen Lenkergriffe nach unten zeigen. Als ich herantrete, erkenne ich, dass das Rad noch nicht betriebsbereit ist. Der Lenker ist so eingestellt, dass das Fahrrad möglichst wenig Platz einnimmt und somit gut transportiert werden kann. Ich sehe den Mann an. Ich kann sein Alter schwer schätzen, weil er so verlebt aussieht: Seine fettigen, dunklen Haare sind von langen grauen Strähnen durchzogen. Aus einem faltigen, blassen Gesicht blicken mich dunkle Augen ernst und müde an. Die Tränensäcke sind eingefallen und hängen tief herab.
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Das Fahhrrad bietet mir einen Anlaß, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er antwortet mir mit ostdeutschem Akzent. Jetzt kann ich erkennen, wie erschreckend lückenhaft sein Gebiss mit den gelb-braunen Zähnen ist. Er hat hier auf Gewerbeschein ein billiges Hollandrad für seine Frau gekauft. Er sagt, die Anschaffung sei notwendig geworden, weil ihnen ein Fahrrad gestohlen worden sei. Jetzt warte er auf ein Taxi. Er arbeite als Wachmann in einer Hochhaussiedlung. Dort komme es oft zu Auseinandersetzungen zwischen den BewohnerInnen. Er sei im Dienst unbewaffnet. Er bezeichnet sich als Vermittler oder Zwischenstelle zwischen Hausmeister und Polizei. Seine Schichten dauerten zwölf bis vierzehn Stunden. Bereitwillig erzählt er mir, dass sein Stundenlohn 7,50 € betrage. Und er fügt hinzu: ‚Meine Frau ist immer froh, wenn ich heil nach Hause komme.'
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