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Folge 46b/2002, Bremen, den 26.07.2002     Immer noch sehenswert: 'Linie 1'
        
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Klein Mexiko beginnt heute ein zweiteiliges Porträt der Gäste der Bahnhofsmission in Bremen. Zunächst habe ich mich in den Räumlichkeiten der Bahnhofsmission umgesehen.

 
Jetzt beginnt der Reigen der Gäste, den ich mit Kamera und Notizheft bis zum Betriebsschluß um 20:00 Uhr nachzeichnen werde.

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Die Hände eines Menschen, der 'Platte macht'

7:30
Der erste Gast kommt: Der Mann ist etwa fünfzig Jahre alt. Bartstoppeln stehen ihm im Gesicht. Er brummelt fast unentwegt vor sich hin. Zunächst studiert er die Deutschlandkarte, die hinter dem Tresen hängt. Dann setzt er sich an einen Tisch. Schnell füllt sich der Raum: Es sind meistens Männer mittleren Alters, aber auch ein Jugendlicher und ein sehr alter Mann. Es werden Brötchen, eine Teigtasche und Tee gereicht. Auf allen Tischen befindet sich ein Zettel, der die Einstellung der Essensausgabe zum19.11. verkündet. Ein älterer Mann setzt sich an meinen Tisch, liest langsam den Zettel. Man merkt, dass ihn die Botschaft - wenn überhaupt - nur langsam erreicht.
Ich setze mich zu einer Gruppe an einem anderen Tisch. Ich sage ihnen offen, dass ich über die Bahnhofsmission und ihre Gäste schreiben will. Erst schauen mich die Leute aus der Runde skeptisch an. Doch dann beginnt ein etwa vierzigjähriger Mann mit eingefallenem Gesicht schon zu erzählen: Er sei obdachlos und schlafe draußen. Sein Magen sei schon länger krank. Den Ärzten gegenüber sei er sehr mißtrauisch. Sie hätten seiner Meinung nach seine verstorbene Frau auf dem Gewissen. Die einzige Frau am Tisch macht einen durchaus besonnenen und stabilen Eindruck. Sie berichtet, dass sie erst vor vier Wochen von Düsseldorf nach Bremen gekommen sei, der Liebe wegen. Einen Teil des Weges habe sie mit ihrem Partner zusammen zu Fuß zurückgelegt. Jetzt gesellt sich der fast unablässig brummelnde Mann zu uns und beginnt pausenlos und schnell zu reden über die verschiedensten Dinge. Die Tischnachbarn werden etwas ungehalten.

8:30
Der erste Ansturm ist vorbei. Die meisten Stühle sind leer.

8:45
Der Raum füllt sich wieder: Ich setze mich zu einem jungen Mann, der mir wegen seiner etwas schmuddeligen Kleidung und seinen geschwollenen blauen, verdreckten Händen auffällt. Er hat 'Platte' gemacht an der Brücke am H.-Platz. Um keine Unterkühlungen zu erleiden, hatte er mehrere Jacken übereinander angezogen und sich in eine Rettungsdecke eingewickelt. Er gibt an, dass die Polizei dort alle halbe Stunde vorbeikomme. Er glaubt, dass es den Beamten schon auffallen werde, wenn ihm etwas Bedrohliches zustoßen werde.
 
9:30
Es wird immer noch Frühstück ausgegeben. Jetzt kommen auffällig viele Jugendliche, männlich und weiblich. Sie sehen teilweise ziemlich gepflegt aus, teilweise aber auch 'abgerissen' . Eine ältere Frau setzt sich an meinen Tisch. Sie erklärt mir, dass sie mit dem Brötchen und der gefüllten Teigtasche über den Tag kommen müsse. Sie bekomme vom Sozialamt 415 DM zum Lebensunterhalt sowie die Miete. Ich setze mich zu zwei jungen Männern und einer Frau, alle etwa zwanzig Jahre alt. Alle drei leben von Sozialhilfe. Die beiden jungen Männer wohnen zusammen in einer eigenen Wohnung mit zwei Schlafzimmern, Wohnstube, Küche und Bad. Die Frau lebt noch bei ihren Eltern. Sie ist von Beruf Köchin, hat aber nie als solche gearbeitet und ist schon lange arbeitslos. Einer der beiden jungen Männer ist ebenfalls Koch , auch ohne Berufserfahrung. Er hat bis zum Sommer bei einem Postzustelldienst gearbeitet. Dort hat er u.a. Pakete gestapelt. Sein Freund, den er schon seit seiner Kindheit kennt, hat in einer Einrichtung für Behinderte gearbeitet, war aber auch Schaustellergehilfe. Seit drei Monaten ist er nun arbeitslos. Die drei jungen Leute planen zusammenzuziehen. Als sie aufbrechen, bringt die Frau das Geschirr weg.

10:30
Zwei ältere Männer kommen herein: Der eine liest den Zettel auf dem Tisch und stellt lakonisch fest, dass ein Mensch von einer Tasse Tee auch nicht satt wird. Er kommt regelmäßig hierher. Der andere Mann hat zuhause schon gefrühstückt und ist nur zum Aufwärmen gekommen.

11:00
Es werden immer noch Brötchen, Teigtaschen und Getränke ausgegeben. Alle Plätze sind besetzt, zum großen Teil mit jungen Leuten. Etliche Gäste sind Stammkunden, die sich auch teilweise untereinander kennen. Es sind viele ausgezehrte Menschen dabei, denen ich meine ansehen zu können, dass sie drogenabhängig waren oder sind. Einigen Gästen ist anzusehen, dass sie 'Platte machen', andere haben ganz offenbar ein Zuhause. Die Hände verraten den Zustand.
Bild-Zeitungen werden gezückt. Der Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen die Ukraine in der WM-Qualifikation ist ein wichtiges Thema der Gespräche.
Ich sehe den ersten Mann (zirka 30 Jahre), der nach einem Besuch am frühen Morgen jetzt das zweite Mal Brötchen und Teigtasche holt. Eine junge Frau spricht schon beim Hereinkommen einen anderen Gast an. Sie sprechen über den ehemaligen Freund der Frau. Sie erzählt, ihr Freund habe sie verprügelt. Ihr Gesprächspartner läßt durchblicken, er sei gerade aus einer hiesigen Suchtklinik ausgerückt.


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Freitag, den 02.08.2002


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vgl.: Begegnungen (1)
 
 

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