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Ich sagte es schon: Das eigentliche Thema dieser Website ist die Erforschung der Beschaffenheit von Wahrnehmung. Hier geht es um die Erkenntnisse, die das Publikum gewinnen kann,wenn es Graffitis ein wenig mehr Aufmerksamkeit widmet als die, die bei bloßer Zurkenntnisnahme entsteht.
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Es soll hier aber keine vollständige Typologie des Graffito entwickelt werden. Schon die wenigen Beispiele zeigen, wie vielfältig und gleichzeitig beschränkt die Möglichkeiten dieses 'Mediums' sind. Es sollen -wie so oft in dieser Publikation - nur Anregungen für selbständiges Denken gegeben werden.
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Bremen, Hulsberg: Leere Plakatwand mit Graffito
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Was wir hier lesen, ist ein vollständiger Befehlssatz. Er enthält eine klare Handlungsanweisung. Der Befehl wird nicht begründet, wie manche militärische Befehle oder Anweisungen in Firmen. AdressatInnen sind offenbar alle, die es lesen könnten. Direkte Informationen über den Urheber oder die Urheberin bekommt das Publikum nicht. Man kann nur schließen, dass es sich um eine/n Christen/in handelt, der/ die vom Drang erfüllt ist, andere zu bekehren. Wenn der/ die UrheberIn sich zu erkennen geben würde mit Name, Adresse und Telefonnummer, könnte ihm/ ihr auch noch ein Problem drohen, das nur zu umgehen ist, wenn Anonymität bestehen bleibt. Letztlich begeht der/ die AutorIn eine Sachbeschädigung.
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Denn: Es gibt weiteres, gleiches Graffito auf dem Fahrplan einer nahegelegenen Bushaltestelle , das durch Überkleben nicht zu beseitigen wäre. Das ist bei nüchterner Betrachtung ein Problem aller GrafftoschreiberInnen und WildplakatiererInnen: Sie stellen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung über das Recht anderer auf unbeschädigtes Eigentum: Der Befehl 'Bete zu Jesus!' wurde ohne Rücksicht auf Rechte anderer veröffentlicht. Wie würde eine Gesellschaft aussehen, in der der Befehl 'Bete zu Jesus!' ohne Rücksicht auf Rechte anderer verwirklicht würde? Andererseits gibt es Leute, die sagen, in unserer Gesellschaft sei das Recht, frei seine Meinung zu äußern, das Recht weniger Reicher, die Eigentümer großer Medien sind.
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Wilhelmshaven: Mauer mit Graffito
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Dieses Graffito ist schon grammatisch ganz anders beschaffen als das 'Bete zu Jesus!'. Es ist im Nominalstil verfasst und enthält keinen vollständigen Satz, geschweige denn einen ans Publikum gerichteten Befehl. Freilich erhebt es auch eine sogar mit Ausrufezeichen betonte Forderung, nämlich die nach einer 'sozialistischen Revolution'. Da aber ein Verb, etwa in der Befehlsform, fehlt, wird niemand direkt angesprochen. So bleibt auch im Ungefähren, wer diese Revolution ausführen soll. Und damit leidet auch ein wenig die Glaubwürdigkeit, mit der die Forderung erhoben wird. Fast wirkt es schon so, dass die AutorInnen meinen, dass sie mit der öffentlichen Formulierung der Forderung derselben schon fast Genüge getan hätten, weil es gar kein revolutionäres Subjekt gibt, das man ansprechen könnte. Freilich gibt es hier wenigstens einen vagen Hinweis auf den Autor, nämlich die KPD/ M(L).
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Der/ die Autor/in des 'Bete zu Jesus!' bleibt jegliche Begründung dafür schuldig, warum man seiner/ ihrer Aufforderung Folge leisten sollte. Die KPD/MLer benennen wenigstens Gründe, aufgrund derer ein nicht näher definiertes Publikum die geforderte 'sozialistische Revolution' starten sollte: 'Krise, Krieg + Faschismus' sollen bekämpft werden. Die Folgen von Wirtschaftskrisen sind in unserem Land immer mal wieder zu spüren. Die Armee ist fast immer in irgendwelche kriegerischen Auseinandersetzungen in irgendwelchen anderen Ländern verwickelt. Den Faschismus gibt es freilich nur in entfernten Ansätzen, die an Pogrome, Zwangsarbeit, Lagerhaft und Straßenkämpfe früherer Jahrzehnte gemahnen.
vgl. auch nächstes Graffito
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Oldenburg: Graffito auf Brückenpfeiler
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Eine ähnliche grafische Darstellung in Form eines Aufklebers habe ich früher schon besprochen. Diese nicht sehr sorgfältig gesprühte Graffito-Version ist vor allem um den Schriftzug 'RIOT' erweitert. Dieser Schriftzug ist eine Entsprechung zu dem Schriftzug 'sozialistische Revolution' in dem oben besprochenen Graffito. Hier wird die wiederum im Nominalstil gehaltene, englische 'Aufforderung' zum Aufstand dem englischen Wort für Kapitalismus entgegengesetzt. Somit steht auch hier ein bloßes Schlagwort im Mittelpunkt, das Eigentumsverhältnisse und eine dazugehörige Gesellschaftsordnung umreißen soll. Die Probleme, das Bild eindeutig zu interpretieren, sind dieselben wie beim erwähnten Aufkleber. Der zusätzliche Schriftzug 'RIOT' macht das Verstehen nicht einfacher.
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Ist der Waffengebrauch Teil eines 'geforderten' Aufstandes? Soll das Bild symbolisieren, dass der Kaptalismus tötet? Der Hinweis auf den 'Aufstand' ist grafisch seltsam 'randständig' und durch den Nominalstil wenig 'ansprechend'. Ohnehin wird das Graffito nicht so allzu viele Adressaten erreichen, da es fernab von dichtbesiedelten Gebieten an den Pfeiler einer Kanalbrücke gesprüht worden ist. Im Gegensatz zum oberen Graffito ist kein(e) 'AutorIn' angegeben, dessen/ deren Name oder Bezeichnung weitere Rückschlüsse auf die beabsichtigte Aussage erlaubt hätte.
Es bleibt die Frage: Wie soll ein Aufstand aussehen, dessen Notwendigkeit auf diese Art vermittelt wird?
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Bremen, Ostertor: Graffito auf Hauswand
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Dieses Foto zeigt zwei Graffitis: Das obere war zuerst da, dann kam das untere hinzu, das mittlerweile schon wieder entfernt worden ist. Das obere Graffito ist schwer verständlich: Es sind Nomina aneinandergereiht. Was diese Nomina charakterisieren sollen, bleibt schwer verständlich. Es müsste geklärt werden, was 'Imperialismus' bedeutet und was 'Maschinen' mit Imperialismus tun haben. Und schließlich wäre interessant zu wissen, was eigentlich mit dem Wortungetüm 'Maschinenimperialismus' charakterisiert werden soll. Doch da kommt schon das nächste Riesenwort 'Pseudogleichberechtigung'. Auch hier bleibt völlig unklar, worauf sich das Wort bezieht.
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So bleibt das Graffito eine Art surreale Schlagwort-Poesie, die freilich zum Rätseln und Nachdenken anregt. Von einer schlichten Handlungsanweisung ist das Graffito also meilenweit entfernt. Meilenweit entfernt hat sich auch schon der/ die UrheberIn, ohne auch nur einen winzigen Hinweis auf ihre/ seine Identität zu hinterlassen.
Das zweite Graffito ist als bloße Beschimpfung gedacht. Beide Teile des Kompositums 'Zigeunerhure' sind als Herabsetzung zu verstehen. Das ergibt sich ganz einfach, wenn man beide Teile des Wortes durch neutralere Bezeichnungen ersetzt: 'Romaprostituierte' klingt anders.
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Bremen, Steintor: Graffito auf Bretterverkleidung
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Die schmalen Nische, die hier mit Brettern verschlossen wurde, befand sich vor den Eingangstüren eines ehemaligen Lebensmittelgeschäftes. In der Nische hatten jungen Leute ihre Habseligkeiten gelagert und nachts geschlafen. Die Absperrung der Nische durch die HausbesitzerInnen rief Protest wach, der sich in dem hier abgebildeten Graffito äußerte. Es gibt keinen verlässlichen Hinweis auf die AutorInnen des Graffitos, wohl aber auf ihre Weltanschauung, die sich im Anarchisten-Logo andeutet. Das Graffito ist Ausdruck einer Empörung über die Handlungsweise der HausbesitzerInnen. Es richtet sich somit auch nicht in erster Linie an das allgemeine Publikum, sondern an die 'Schlafplatz-VernichterInnen'. Es stellt aber weder konkrete Forderungen an die HausbesitzerInnen, noch gibt es eine Handlungsanweisung an das Publikum.
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Es erschöpft sich in Entrüstung, die sich in ziemlich drastischen Beschimpfungen ausdrückt. Auch hier spielt die Eigentumsfrage eine Rolle. Die Schlafplatznutzer hatten eigentlich privaten Grund besetzt, wenn es auch Grund in randständiger Lage war, der zum Zeitpunkt der Bestzung in keiner Weise von anderen genutzt wurde. Das Graffito war Ausdruck von Ohnmacht gegenüber der Macht, die EigentümerInnen in unserer Gesellschaft nun einmal haben. Ich sage 'war', weil die Wand inzwischen völlig mit wild geklebten Plakaten überdeckt ist, eine Entwicklung, die sich auf dem Foto schon andeutet.
Vgl. Schlafstelle unter freiem Himmel, Vor dem Steintor, Februar 2015 |
Bremen, Ostertor: Graffito auf Plakat
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Dieses Foto zeigt einen kleinen Ausschnitt aus einer Wand, auf der seit langer Zeit schon wild Plakate geklebt werden. Der Kampf um die mediale Besetzung fremden Eigentums ist so heftig, dass Plakatierer schon darum flehen, dass ihre Veröffentlichungen nicht gleich von der nächsten Welle von Plakaten überrollt werden mögen.
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Die Hoffnung, dass der Hinweis auf die 'Soliparty' auch Solidarität bei den Konkurrenten erzeugen möge, ist freilich gering. Ein bloßer Blick auf den Trafo- oder Fernmeldekasten am unteren Bildrand zeigt, wie schnell sich hier Kleisterschicht auf Kleisterschicht lagert. |
Vgl. auch:
Kampfzone Plakat
Fotonotizblock: Gedanken zu einem politischen Graffito
Bitte werfen Sie auch einen Blick auf den kleinen Artikel über ein Graffito in Hamburg, das der Flaneur in seinem Blog veröffentlicht hat.
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Freitag, den 15.5.2015
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