Ich sehe mich außerstande, mich genau zu erinnern, wann ich vor dem September dieses Jahres das letzte Mal auf einer politischen Kundgebung oder Demonstration war. Es mag wohl sein, dass es mich zehn oder fünfzehn Jahre nicht zu einer solchen Veranstaltung gezogen hat, wie meine Neigung, zu demonstrieren, insgesamt in den letzten fünfzig Jahren sehr schwach war. Es fällt mir schwer, hinter irgendwelchen Parolen zu stehen oder herzulaufen, besonders wenn ich sie nicht selbst erfunden habe oder wenigstens hätte erfinden können. Ich bin ein Mensch der Sprache und jeder als schief empfundene Ton tut mir weh.
Plakat
Am 10. September sah ich in der Nähe der Siedlung ein Plakat, das eine einfach formulierte, politische Forderung erhob, die angesichts der gegenwärtigen Inflation hochaktuell ist: 'DIE PREISE MÜSSEN RUNTER!' Unter der Parole fand sich die Einladung zu einer Kundgebung, die vierzehn Tage später nachmittags auf einem großen Platz in der Nähe der Siedlung stattfinden sollte.
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Als ich am besagten Nachmittag eine knappe halbe Stunde vor dem Termin auf den Platz kam, hatten zumeist junge Leute zwei Stände mit Informationsmaterial aufgebaut. Ein paar von ihnen liefen auf dem Platz hin- und her. Erst etwa eine Stunde später hatten sich etwa hundert Menschen versammelt, immer zum größten Teil noch junge Leute. Aber auch ein paar Grauköpfe, die oft als Rentner ja eigentlich von Inflation sehr betrtoffen sein sollten, waren zu sehen, darunter auch eine mir bekannte politisch Unermüdliche.
Junge Leute hielten Transparent hoch: 'PREISDECKEL STATT GASUMLAGE/ Krisenprofiteure zur Kasse bitten!' oder 'ALLES FÜR ALLE/ STAAT.KAPITAL.PREISE.SCHEISSE'. Mit einigen der jungen Leute habe ich gesprochen: Ein gewisser Grad an theoretischer Schulung war aus ihren Äußerungen herauszuhören. Einer versuchte ziemlich energisch, mir die Politik seiner Partei, die hier unerwähnt bleibt, schmackhaft zu machen.
Dann wurden Reden gehalten. Ich habe eine Weile einer jungen Frau zugehört. Am Inhalt war nicht viel auszusetzen, wenn man ein Gegener von hoher Inflation ist. Ich fühlte mich aber an den Ton und die Rhetorik auf studentischen Demonstrationen in meiner Jugendzeit erinnert. Schließlich wurde mir das Pathos in der Stimme zuviel. Ich habe noch ein immerhin viersprachiges Flugblatt abgegriffen, in dem zu einem Treffen im Anschluß an die Kundgebung an einem nahegelegenen Veranstaltungsort eingeladen wurde. Hingegangen – man verzeihe mir – bin ich nicht. Politische Aktivität außerhalb meiner Autoren- und Fotografentätigkeit liegt mir nicht.
Vielleicht kann ich mich ja anschließen, wenn es irgendwann einmal wieder wie vor Jahrzehnten heißt: AUF ZUM NIEDER MIT DEM WEG!
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