Bei einem frühmorgendlichen Ausflug in einen vertrauten Stadtteil kehre ich zunächst in einem Lebensmittelladen ein, der Tag und Nacht geöffnet ist. Es ist Sonnabend und statt des mir bekannten Angestellten steht eine junge, nicht allzu große Frau, eine Aushilfe, hinter dem Tresen. Sie trägt ein auffälliges, buntes Kopftuch. Aus dem Radio kommt türkische Musik mit Rhythmen, die für mein Ohr ziemlich kompliziert klingen. Auch das Tremolo, das der Sänger zum besten gibt, könnte ich wohl ohne eifriges Üben nicht nachsingen. Ich weiß, dass die Kunden während der Nachtschicht nicht immer 'pflegeleicht' sind. Also frage ich die junge Frau, ob es denn heute nacht auch Kunden gegeben habe, die sich daneben benommen hätten. Ihre Antwort zeigt ziemliches Selbstbewußtsein.
Vor der Tür des Kiosk treffe ich einen alten Bekannten. Er ist in Plauderlaune: Ich erfahre, wie er vor Jahren seine Frau, eine Chinesin, in Shanghai kennengelernt hat.
Ich gehe weiter: Aus einem Haus trägt ein Jugendlicher Koffer. Er sieht ein wenig blaß und auch etwas ängstlich aus. Ich frage: 'Na, wohin geht die Reise?' Er antwortet: 'In die Türkei, ein schlechter Zeitpunkt.' Es steht wohl ein Besuch in der Heimat der Eltern an, in der es politisch gerade sehr unruhig ist.
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Wenig später fällt mir auf der Straße eine Frau auf, die sehr unsicher geht. Ich spreche sie an. Sie weint und sagt: 'Ich bin Münchenerin. Ich bin total betrunken.' Am Tag zuvor hatte in München ein junger Mann mehrere Menschen, vor allem junge Leute, ermordet. Ich bin ein wenig hilflos und sage: 'Aber München hat doch auch viel Schönes hervorgebracht, zum Beispiel Karl Valentin.' Dann schluchzt sie halb lachend, halb weinend: 'Und die Münchener Philharmoniker!' Sie geht weiter und ich wende mich heimwärts.
Auf dem Rückweg komme ich noch an einem ehemaligen Bürogebäude vorbei, in dem jetzt Flüchtlinge untergebracht sind. Am Rande des großen Platzes vor dem Eingangsbereich stehen etwa sechzig Fahrräder, die von den Flüchtlingen genutzt werden.
Der Ort hat eine Anmutung von Schulhof mit Fahrradständern. Aber die Fahrradbesitzer sind zum großen Teil erwachsene Menschen. Die Räder ermöglichen den Flüchtlingen eine Mobilität, die sonst nur schwieriger zu erreichen wäre. Wie sähe der 'Schulhof' aus, wenn alle statt des Rades ein Auto hätten und es auf dem Hof abstellen würden?
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