Dass im Viertel Menschen, in der Hauptsache Männer mittleren Alters, umhergehen und versuchen, Passanten eine 'Straßenzeitung' zu verkaufen, ist inzwischen Alltag. Nicht alltäglich und neu für mich war allerdings, dass ich als Radfahrer neulich von einem solchen Verkäufer laut angesprochen wurde mit dem Ziel, mich zum Anhalten und zum Kauf einer Zeitung zu bewegen. Ich kannte den Mann schon und fuhr weiter.
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Einige Tage zuvor hatte er mich fast am gleichen Platz angesprochen, während ich mich anschickte, an einem Stand etwas einzukaufen. Ich hatte ihm signalisiert, dass ich nicht kaufen wollte. Als ich mich dann von Stand wieder entfernte, kam er wieder auf mich zu und konfrontierte mich recht fordernd mit der Einwort-Aufforderung 'Spende!', indem er eine Hand in meine Richtung streckte. Ich wehrte ihn nun etwas energischer ab: Er möge seine Zeitungen verkaufen, aber nicht an mich und solle mich nicht noch einmal ansprechen und anbetteln. Er hatte meine Worte vielleicht nicht verstanden, wohl aber meine Ablehnung, denn er ließ von mir ab. Daraufhin mischte sich eine Frau ein, mittleren Alters und vom Erscheinungsbild dem Bürgertum zuzuordnen: Sie murmelte eine Rüge in meine Richtung und sah mich bitterböse an, als ich mich in ihre Richtung wandte. Ich gab ihr unmißverständlich zu verstehen, dass ich nach einem abschlägigen Bescheid nicht noch ein zweites Mal von dem Mann angesprochen und am Ende noch angebettelt werden möchte. Die Frau schwang sich auf ihr ansehnliches Rad und fuhr davon, nicht ohne noch weitere gemurmelte Rügen hinter sich herzuziehen.
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Einige Tage später standen meine Frau und ich an einer Haltestelle im Viertel und konnten folgendes Schauspiel beobachten: Vor einem Kiosk stand ein Mann in keineswegs ärmlicher Bekleidung. Sobald jemand vorbeikam, streckte er die Hand vor und sagte laut und in kläglichem Ton 'Essen!' Diese Aktion, wenn sie denn 'Spenden' einbringen sollte, war erfolglos in der Zeit, in der wir sie verfolgen konnten.
Haltestellen sind inzwischen im Viertel und anderswo teilweise zu Orten geworden, an denen manchmal sonst verborgenes Elend sichtbar wird. Am Rande des Viertels zog in den letzten Monaten ein Mann von Haltestelle zu Haltestelle und führte in Einkaufswagen sein ganzes Hab und Gut mit sich. Einmal habe ich auch gesehen, dass er auf einer Bank in einer Haltestelle schlief. Ein anderes Mal sah ich, wie er auf einem Grünstreifen in der Nähe einer Haltestelle sein Frühstück einnahm. Ich habe mich ein paar Mal mit dem Mann unterhalten und eine leise Ahnung davon bekommen, wieviel Leid mit der Karawane von Einkaufswagen zieht. Neben dieser auffälligen Erscheinung gibt es viele Obdachlose, die nur mit ein paar Tüten und Taschen unterwegs sind. Es ist ein wachsendes Elendsproletariat unterwegs.
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Jenseits des Horizontes von Armut und Bettelei bewegen sich auf den Straßen des Viertels Leute in Missionen, die ich dort noch nicht wahrgenommen habe: Neulich sah ich ein Filmteam durch den morgendlichen Ostertorsteinweg ziehen. Ich fragte die Leute halb scherzhaft, wann denn der neue 'Viertelkrimi' in die Kinos käme. Ich wurde darüber aufgeklärt, dass sich vor der Kamera jemand für eine Bewerbung um eine Stelle in Szene gesetzt habe. Diese Form sei für eine Bewerbung gar nicht mehr so ungewöhnlich, wurde mir etwas gönnerhaft beschieden.
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