Das Zentrum erhob seine Modelle zur Norm; und diese Norm ist nichts anderes als die der modernen Industrialisierung, die sich nicht mehr damit zufrieden gibt, daß der Konsument konsumiert, sondern mit dem Anspruch auftritt, es dürfe keine andere Ideologie als die des Konsums geben. Ein neo-säkularer Hedonismus, der ahnungslos sämtliche humanistischen Werte vergessen hat und ahnungslos jeder humanen Wissenschaft entfremdet ist.
Pier Paolo Pasolini: Scritti corsari, Mailand, 1975, ; deutsch: Freibeuterschriften, Berlin, 1978
Sehr selten gibt es im kargen Leben des Alltagsbeobachters lichte Augenblicke, in denen sich die Erinnerungen an wiederholte, vergangene Erfahrungen mit dem gegenwärtigen Erlebnis zu Erkenntnissen verdichten, die eine eine 'neue Spur' legen, der der Feldforscher folgen muss. Einen solchen Moment durfte ich vor einigen Wochen erleben, als meine Frau und ich in einem Café in einer norddeutschen Großstadt strandeten.
Es war ein Kaffeehaus nach der Art jener 'Institutionen', deren Verlust wir in Bremen jetzt schon mehrfach beklagen mussten: Zuerst wurde das Café Rippe in der Bahnhofsvorstadt durch eine Sparkassenfiliale verdrängt. Dann verschwand das Café Schriefer zugunsten einer global agierenden Café-Kette. Erst im letzten Jahr schloß in der Nachbarschaft das Café Heinemann. Was in dessen ehemaligen Räumen zukünftig betrieben wird, ist derweil noch nicht klar.
Jene untergegangenen Institutionen verband etliches: Sie boten Konditorwaren zum Verzehr an, die kleine Meisterwerke aus der Hand individuellen Künstlern ihres Faches waren. Sie waren nicht massenhaft industriell gefertigt, nicht genormt. Ebenso war die Inneneinrichtung eines jeden Cafés einzigartig. Sie boten Platz für Rückzug in Nischen und somit für ein intimes Gespräch in aller Ruhe. In diesen Kaffeehäusern wurden die Gäste am Platz bedient, zumeist von diskreten und aufmerksamen Serviererinnen, deren kleines Heer man als Stammgast bald überblickte.
Man wurde in Ruhe gelassen, d.h. man wurde nicht in regelmäßigen Abständen mit irgendwelchen Fragen oder Aktionen wie Abräumen des Geschirrs bedrängt, entweder wieder etwas zu bestellen oder den Platz für neue Kundschaft freizumachen.
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Schließlich waren sie besonders für Menschen, die das Rentenalter erreicht hatten, einen Ort für Austausch und Zusammensein.
Noch während wir im Café saßen, ging mir so einiges durch den Kopf: Das Angebot dieser 'Institutionen' umfaßt Kuchen- und Gebäcksorten, die für Deutschland, aber oft auch insbesondere für die Region charakteristisch sind. Das besuchte Café wirbt auf der Visitekarte des Konditormeisters mit Backspezialitäten der Stadt. Wenn diese 'Institutionen' verschwinden, verschwinden mit ihnen auch regionale Spezialitäten ganz oder teilweise. Wenn diese 'Institutionen' durch national oder international agierende Ketten verdrängt werden, tritt an die Stelle des 'kleinteilig regionalen' Angebots ein normierbares Massenangebot, das die 'Traditonen' verdrängt.
Wenn ich in der Vergangenheit eine Filiale einer solchen Kette besucht habe, habe ich nicht selten die Erfahrung gemacht., dass mir / uns nach kurzer Zeit das kaum geleerte Geschirr 'vor der Nase weggerissen' wurde in der Absicht, so weiteren Umsatz zu generieren. Auf der Jagd nach Umsatz und Profit wird als erstes die Muße des Gastes und damit auch die Gastfreundschaft erlegt. Damit wird auch der Wert der öffentlich zelebrierten Muße geschmälert. Respekt vor der Muße des Gastes ist sicherlich auch kein Ziel, das von Zentralen irgendwelcher Filialisten und Konzerne verkündet wird. Dort herrscht wie in den Banken die Macht der nüchteren Analyse von betrieblichen Kennziffern und Zahlen. Inhabergeführte kleine Cafés können das Mußebedürfnis der Gäste schon allein deshalb nicht ignorieren, weil weil dort der Kontakt zwischen Gästen, MitarbeiterInnen und ChefInnen enger ist. Aber kann man das Mußebedürfnis des Gastes überhaupt ignorieren, wenn man davon ausgeht, dass öffentlich zelebrierte Muße nicht auch eine Art Menschenrecht ist?
Was hat das alles jetzt mit dem Redaktionsstübchen zu tun? Sehr viel. Der Vorgang macht deutlich, auf welchem Weg der Autor zu neuen thematischen Fragen kommt wie ''Wo ist die Muße vorhanden, wo auf dem Rückzug? Wo schwindet das Lokale, Tradtionelle, Individuelle zugunsten einer Norm?'' Es zeigt , dass solche Fragen in einer Situation der Muße aufkommen. Und letztlich demonstriert es, dass das Redaktionsstübchen überall sein kann.
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